Vieles von dem, was wir sehen, nehmen wir für wahr – warum eigentlich? Ich blicke aus dem Fenster: Das gegenüberliegende Haus steht vor mir in Schönbrunner Gelb. Wirklich? Das ist vermutlich ein Wiener Reflex, denn das österreichische Bundesdenkmalamt klärt mich auf, dass das „ein Begriff (und kein Farbton!) [ist], um den sich viele Mythen ranken, der weder mit einem Farbcode definierbar ist, noch a priori mit Schönbrunn in Zusammenhang steht“.
Bei Farben können die Meinungen auseinandergehen, na gut, aber ein Bär ist doch ein Bär, und ein Berg ist doch ein Berg. Oder nicht? Die Schweizer Bilderbuchkünstler Rebecca Gugger und Simon Röthlisberger haben sich ausgerechnet den Berg als Streitobjekt gewählt, „als Bild für eine Meinung, einen Glauben, eine Sache, die jeweils als ‚richtig und wahr‘ angeschaut wird“. Zumindest von unten besehen.
„Der Berg ist waldig, voller Bäume und grün!“, behauptet der Bär.
„Aber nein doch. Wo denkst du hin! Der Berg ist eine Wiese. Blumig, würzig, frisch und summend“, meint das Schaf.
Kurioserweise mischt sich an dieser Stelle der Oktopus ein. Ziemlich hochmütig erklärt er, der Berg sei „nass und von Wasser umgeben. Voller Fische und Farben“. Er muss es ja wissen. Die Ameise weiß es aber noch besser, zum Entsetzen der Gämse und des Schneehasen.
Die Ansicht jedes Tiers wird auf je einer Panoramaseite dargestellt, die grandiose Einblicke in die jeweiligen Bergwelten gibt – und die verschiedenen Perspektiven zeigt. Als die Meinungen und festen Überzeugungen aufeinanderprallen, wird es richtig laut.
Was in dieser Situation hilft, das weiß der Zugvogel: die Vogelperspektive natürlich. Denn von oben besehen sieht alles ganz anders aus als erwartet. Und so macht sich eine kuriose Seilschaft auf den Weg hinauf auf den Berg. Wo sie eine Überraschung erwartet.
Wald, Wiese, Stein und Schnee, Hügel und Wasser, so weit das Auge reicht.
„Eigentlich ist es ganz einfach“, sagen die Tiere.
Wie wichtig der Blick aus der Distanz ist (der nicht umsonst der ‚Überblick‘ heißt), der Blick „über den eigenen Tellerrand“, um anderen Sichtweisen Raum zu geben und Toleranz zu üben – das ist die Botschaft dieses wundervollen Buches: „Die Welt ist groß genug für alle.“
Dass sich der Streit ausgerechnet an einem Berg entzündet, lädt zu einer kulturökologischen Lesart ein. Aus Sicht des Menschen scheint er unverrückbar, von der Natur gegeben, ruft zur Eroberung und Bezwingung auf, steht zu beliebigem Nutzen als Steinbruch und Freizeitvergnügen zur Verfügung. Aus Sicht der Tiere ist er existenzieller Lebensraum, mit dem Identität und Vorstellungswelt verknüpft sind. Das Bilderbuch hält uns an ihrem Beispiel einen Spiegel vor: Jeder*Jedem ist die eigene Welt die einzig wahre. Die eine Welt aber, unsere Erde als Lebensraum, gilt es gemeinsam wertzuschätzen und mit vereinten Kräften zu schützen.
„Wir finden es spannend, wenn ein Bilderbuch eine Geschichte erzählt, wenn Sachen entdeckt werden können, und das Buch aber auch Anlass zu weiteren Fragen geben kann.“
Rebecca Gugger & Simon Röthlisberger
Für diese Lesart laden die Bilder mit ihrer visuellen Kraft ein, welche die lebendigen Strichführungen und farbfrohen Flächen ausstrahlen. Der Oktopus bietet den Irritationsimpuls, um im Raum der Phantasie die Grenzen und Möglichkeiten individueller Wahrnehmung zu erproben. „Der Berg“ ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie das Bilderbuch als Kunstwerk kulturelle Energie freisetzt, für einen frischen Blick auf die Welt.
Rebecca Gugger & Simon Röthlisberger
DER BERG
NordSüd, 2021
ISBN 978-3-314-10562-3
- Das Buch stand auf der Shortlist der Schönsten Deutschen Bücher 2021.
- Das Interview mit Rebecca Gugger und Simon Röthlisberger zum Buch gibt spannende Einblicke auch in die hybride Maltechnik ihrer gemeinsamen Arbeit.
- Auf der Website des Verlages findet sich auch eine Leseprobe.
- Die Kunst von Rebecca Gugger ist auf ihrer Website zu entdecken.