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Lob der Aphrodite – die Absolutheit des Gefühls

Marina Zwetajewa zählt neben Anna Achmatowa zu den bedeutendsten russischen Dichterinnen. Ihre Lieb…

Die beiden starken weiblichen Stimmen der russischen Dichtung des 20. Jahrhunderts bilden zwei Pole: „Anna Achmatowa vertritt die klassische Ruhe, die schlichte Alltagsprosa, die beharrliche Untertreibung des Leidens. Marina Zwetajewa – den impulsiven Ausbruch, den ungehemmten Schrei, liebenden Zorn. Die eine – gebändigte Harmonie, die andere – entfesselte Dissonanz.“

In hundert Jahre alte Bäume schrieb
Ich’s endlich – sollen es ruhig alle wissen! –
Dass du geliebt wirst! Ja, geliebt! geliebt! geliebt! – 
Als Regenbogen-Schrift es an den Himmel hissend
.

Entfesselte Dissonanz: Marina Zwetajewas Liebeslyrik ist poetisches Tagebuch ihrer vielgestaltigen Beziehungen, in allen Facetten, Phasen und Nuancen des Knisterns, Verschmelzens, Loslösens, Trennens. Sich dieser Lektüre zu öffnen, bedeutet, in die Woge einzutauchen, von ihr mitgerissen und überrollt zu werden, nach Luft ringend wieder aufzutauchen. Ralphs Dutlis Übersetzung, mit ihrem feinen Sensorium für die Rhythmik, den Klang, die Bedeutung jeder einzelnen Silbe, verstärkt dieses atemlose Spracherlebnis.

„Sie war vollkommen eigensinnig … Sie suchte in allem die Ekstase und die Absolutheit des Gefühls. Sie brauchte die Ekstase nicht nur in der Liebe, sondern auch im Verlassenwerden, in der Einsamkeit, im Unglück.“

Nadeschda Mandelstam

1892 in Moskau geboren, lebte Marina Zwetajewa ab 1922 als Emigrantin in Berlin, Prag und Paris. 1939 kehrte sie in die stalinistische Sowjetunion zurück, wo sie sich 1941 das Leben nahm. Die Zeittafel, die Ralph Dutlis den Band von 156 ausgewählten Gedichten ab- bzw. aufschließenden Essay vorangestellt ist, lässt die tragische Dimension dieser Dichterin der Maßlosigkeit erahnen.

156 Gedichte der russischer Dichterin über die Liebe, „das grausame Spiel zum Krallenschärfen gegen sich selbst“

Zeittafel und Essay weisen den Weg wie Vergil als Begleiter Dantes durch die Unterwelt: Der poetische Blick des Übersetzers als Mitschöpfer ist Einladung zur Erkundung von Leben und Werk dieser Dichterin mit allen Sinnen. Er macht die biografischen Fäden sichtbar, öffnet die Wahrnehmung für Motive und Gesten in Zwetajewas „Liebes-Enzyklopädie“. Die Adjektive von provokant, zärtlich, leichtsinnig über radikal, leidenschaftlich, leidend bis entbehrungsreich, geächtet, tragisch erfassen das Wesentliche in Marina Zwetajewas Leben und Lyrik: „zu leben nach dem Gesetz der Verwandlung von Leben in Sprache“.

Ich bin. Du wirst sein. Zwischen uns – ein Abgrund.
Ich trinke. Du dürstest. Sich verabreden – vergeblich.
Es sind zehn Jahre, es sind hundert Jahrtausende
Die uns trennen. – Gott baut keine Brücken.

Sei! – Das ist mein Gebot. Lass mich – vorüber-
Gehn, mit dem Atem dein Wachstum nicht stören.
Ich bin. Du wirst sein. In zehn Frühlingen
Wirst du sagen: Ich bin! Und ich sage: Irgendwann …

6. Juni 1918

Я — есмь. Ты — будешь. Между нами — бездна.
Я пью. Ты жаждешь. Сговориться — тщетно.
Нас десять лет, нас сто тысячелетий
Разъединяют. — Бог мостов не строит.

Будь! — это заповедь моя. Дай — мимо
Пройти, дыханьем не нарушив роста.
Я — есмь. Ты будешь. Через десять вёсен
Ты скажешь: — есмь! — а я скажу: — когда-то…

Ralph Dutlis Ausgaben des dichterischen Werkes von Ossip Mandelstam, Joseph Brodsky und Marina Zwetajewa bieten nicht nur pures, lyrisches Sprach-Erleben, sondern ermöglichen ein Eintauchen in poetische Welten auch und gerade in den sie begleitenden Essays. Für verdichteten Genuss sei der Band Nichts als Wunder – Essays über Poesie des vielfach ausgezeichneten Übersetzers, Dichters, Essayisten, Biografen, Romanautors empfohlen, der uns Leser*innen teilhaben lässt am Wirkprinzip: Lyrikübertragung als magischer Akt.

Ralph Dutli liest am 11. März 2021, 20:00 Uhr, im Lyrik Kabinett München, live zu erleben auf dem YouTube-Kanal des Lyrik Kabinetts oder nachzuhören auf der Plattform Dichterlesen.net.

Marina Zwetajewa
Lob der Aphrodite
Gedichte von Liebe und Leidenschaft
Aus dem Russischen übertragen und mit einem Essay von Ralph Dutli
Göttingen: Wallstein, 2021
ISBN 978-3-8353-3943-9

Ralph Dutli
Nichts als Wunder
Essays über Poesie
Zürich: Ammann, 2007.
ISBN 978-3-250-30020-5