Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård hat sich in der Vergangenheit vor allem durch seine autobiographischen Bestseller einen Namen gemacht. Trotz des überragenden Erfolgs der sechsbändigen Reihe ‘Mein Kampf’ wollte er anschließend eigentlich nicht mehr schreiben. Gut, dass es nicht dabei blieb und Knausgård sich wieder an den Schreibtisch setzte.
Nach vier Bänden über die Jahreszeiten, die Briefe, Reflektionen, alltägliche Beobachtungen, philosophische Einsprengsel, Erinnerungen und Erlebnisse enthalten, präsentiert uns der Vielschreiber nun seinen Roman ‘Der Morgenstern’.
Es ist ein heißer August, in dem Ungeheuerliches geschieht, denn plötzlich, ohne Vorwarnung taucht ein neuer Stern am Himmel auf. Der Himmelskörper wirkt unterschiedlich auf die Protagonisten des Romans, die den Stern misstrauisch beobachten. Manche fürchten, dass es sich um einen Boten des Unheils handelt und eine Katastrophe auslösen wird, andere erfreuen sich an seiner Schönheit, andere quält die Ungewissheit, was dieses außergewöhnliche Naturphänomen zu bedeuten habe.
Wir begleiten im Lauf der knapp 900 Seiten fünf Erzählerinnen und vier Erzähler durch ihren Alltag.
Da ist Arne, der Literaturprofessor, der die Sommertage mit Frau und Kindern in einem Sommerhaus verbringt. Wir lernen Kathrine kennen, eine Pfarrerin, die eine Dienstreise verlängert, indem sie eine Nacht in einem Hotel unweit ihres Zuhauses verbringt. Alle neun Menschen, in deren Alltag wir Einblick nehmen, sind auf ihre ganz eigene Art von diesem ihrem Leben enttäuscht, verbittert und aus dem Gleichgewicht geraten sind.
Der Himmel über den Bergen war heller geworden, und die Sterne waren so verblasst, dass sie fst unsichtbar waren, aber nicht der neue, der weiter hell und klar leuchtete
Der am Himmel aufgetauchte Morgenstern spiegelt die aus den Fugen gebrachten Leben dieser Menschen wider, denn er sorgt offenbar dafür, dass auch die Natur Kapriolen schlägt: Ratten tauchen an Orten auf, an denen sie nie zuvor gesichtet wurden, Horden von Krabben überfluten den Strand und wagen sich bis in den Wald vor. Für tot erklärte Menschen wachen wieder auf und springen dem Tod von der Schaufel. So sickert leise die bedrohliche, mysteriöse Atmosphäre, die durch das Auftauchen des Himmelskörpers in der Luft liegt, auch in den Alltag der Protagonisten, die zusehends Halt verlieren, in verschobenen Wirklichkeiten leben.
Doch warum ist dieser Stern aufgetaucht? Die Ursache hinter den räselhaften Vorgängen bleiben im Dunkel, auch wenn sich Leserin und Leser zwischendurch immer kurz vor der Auflösung wähnen. Im letzten Moment zieht Knausgård immer wieder die Reißleine und lässt die Seite mit einem Cliffhanger enden. So bleibt das Buch spannend bis zum Schluss.
Für alle Leserinnen und Leser, die den typischen Knausgård-Sound lieben: in diesem Roman ist er in der Übersetzung von Paul Berf wieder vorhanden. Er lässt sich Zeit mit der Beschreibung von Landschaften und den alltäglich wirkenden Dialogen, gibt jeder Hauptfigur ihre eigene Sprache, die den Personen in ihren Lebenskrisen Authentizität verleiht.
Vielleicht ist dieser Stern aber auch gar nicht die Vorahnung der Apokalypse, ein Zeichen des Bösen. Möglicherweise finden die am Ende doch ein wenig lieb gewonnenen Figuren einen Ausweg aus den Wirren des Lebens.
Und womöglich lässt sich dieser Stern, der über allem schwebt auch als Metapher lesen, als Kommentar zur aktuellen Lage der Welt, zu Klimawandel und sonstigen Katastrophen. Der Morgenstern hängt am Himmel wie ein Damoklesschwert und bis zuletzt steht offen, ob er zur Erde stürzt oder als freundliche Warnung am Firmament verharrt.
In jedem Fall eine gelungene Auseinandersetzung mit all den Themen, die nicht nur die Protagonisten des Romans umtreiben: Leben und Tod, Individualität, der Dschungel von Beziehungen, Umweltfragen, ein wenig Philosophie, ein wenig Theologie, ein wenig Science Fiction.
900 Seiten Leseempfehlung.