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Fliegenpapier

Gedanken, Beobachtungen, Fundstücke, in Michael Maars ‚Vermischten Notizen‘

Das Fliegenpapier Tangle-foot ist ungefähr sechsunddreißig Zentimeter lang und einundzwanzig Zentimeter breit; es ist mit einem gelben, vergifteten Leim bestrichen und kommt aus Kanada. Wenn sich eine Fliege darauf niederläßt – nicht besonders gierig, mehr aus Konvention, weil schon so viele andere da sind – klebt sie zuerst nur mit den äußersten, umgebogenen Gliedern aller ihrer Beinchen fest.

So anschaulich beschreibt Robert Musil den Fliegenfänger der Tanglefoot Company. Die Firma wurde um 1880 gegründet und ist einer der ältesten Hersteller von umweltfreundlichen Schädlingsbekämpfungsmitteln. Der Klebestreifen gegen Fliegen machte die Firma berühmt, die Erfindung wurde ein voller Erfolg.

Und so wie die Beinchen der Fliegen auf dem Leim haften bleiben, haften die Gedanken, Lese-Fundstücke und präzisen Betrachtungen der Umwelt von Michael Maar auf den Seiten des schmalen Bändchens aus dem Rowohlt Verlag ‚Fliegenpapier – Vermischte Notizen‘. Es sind kurze Prosaminiaturen, die die Vielzahl der Interessen des Autors Revue passieren lassen.
Natürlich erfolgt immer wieder die Auseinandersetzung mit literarischen Größen: Tolstoi taucht in den Miniaturen auf, Kafka, Tschechow, selbstverständlich Thomas Mann, auch Don DeLillo, James Joyce und E.L. Doctorow.

Arthur Schnitzler, der im Burgtheater von der Wachesteherin gefragt wird, ob der Herr ein Künstler sei, antwortete mit einem Seufzer: „Wüßt ich’s doch!“

Und sonst? Es geht um den Tod, die Liebe, praktische Lebensratschläge und eigentlich alles. Auch um die blauen Häkchen bei WhatsApp! Das Literarische findet Platz, die genaue Beobachtung der Umgebung, Selbstreflexion und die Banalitäten des Alltags. Alles, was den Menschen ausmacht.

Man liebt den anderen nicht, weil er so oder so ist, sondern obwohl er so oder so ist.

Der Reiz der Sammlung liegt vor allem im Fragmentarischen, Unvollendeten, denn die Einträge sind vielfach nicht länger als wenige Zeilen und laden dazu ein, nähere Hintergründe zu erforschen, nachzuschlagen bei den erwähnten Autoren, nachzufragen, ob Hermann Hesse und Peter Handke tatsächlich humorbefreit schreiben, wie Michael Maar anmerkt.

Oder auch nachzuhören, um vielleicht ebenso wie Maar die Authentizität der frühen Werke der schwedischen Sängerin schmerzlich Lykke Li zu vermissen.
Als kleines Beispiel: Sadness Is a Blessing. Exzellentes Video mit nahezu lautlosen ersten 1:50 Min. und dem bekannten Schauspieler Stellan Skarsgård.

Nach dem großartigen Standardwerk ‚Die Schlange im Wolfspelz‘, in dem der Germanist Michael Maar dem Geheimnis großer Literatur auf die Schliche zu kommen sucht, hier nun mit ‚Fliegenpapier‘ ein wunderbarer kleiner Band, der zum Blättern einlädt, zum Verweilen auf der einen oder anderen Seite, um die klugen, interessanten, mitunter aber auch durchaus albernen Notizen lächelnd nachzulesen.

Fliegenpapier
Vermischte Notizen

Michael Maar
Rowohlt
ISBN 978-3-498-00290-9