Faszination Krake – das klingt ein wenig, als wäre den zuständigen Denker*innen kein origineller Titel eingefallen. „Wesen einer unbekannten Welt“, der Untertitel, gibt da schon ein wenig mehr her, zumindest eine schöne Alliteration (die aber, wenn wir ehrlich sind, auch ein wenig abgegriffen klingt, an eine Jacques-Cousteau-Doku erinnernd). Dieses hochformatige Kinderbuch – eher ein illustriertes Sachbuch als ein erzählendes Bilderbuch – mit seinen 144 Seiten in Schwarz, Weiß und der Schmuckfarbe Gold wartet mit einigen Hürden auf. Sie zu nehmen, lohnt sich.
Der scheinbar einfaltslose Titel umschifft immerhin elegant die Frage: der Krake oder die Krake? Tipp für Eilige: Das wird auf Seite 61 aufgelöst. Hier lesen wir auch einen Vergleich zwischen uns Menschen und den Kraken: „Alles wollen und müssen wir berühren, vor allem neue Dinge, die wir nicht kennen, die uns schon deshalb faszinieren.“ Damit ist auch das mit der Faszination geklärt. Zum Berühren laden auch die wirklich faszinierenden Zeichnungen von Michèle Ganser ein, die filigranen Schwebewelten in Schwarzweiß. Tatsächlich werden wir Leser*innen auch explizit aufgefordert, nicht nur in Suchbilder abzutauchen, sondern auch zu den Buntstiften zu greifen, um ein wenig Korallenriffatmosphäre zu schaffen, bzw. zur Schere, um den phallusartigen Krakenkopf auszuschneiden.
Überhaupt steckt viel Krakenpsychologie in diesem Buch. Vielleicht hat das etwas mit der Zahl acht zu tun, die Michael Stavarič zum wunderbaren Wortverdreher macht, ihn herrliche Krakenkalauer, kuriose Krakenfakten und kernige Krakensprüche klopfen lässt.
Tatsächlich erfahren wir viel über Kraken und ihre Eigenheiten, die sie dort in ihrer Lebenswelt tief unten im Ozean ausleben. Wir lernen, was es mit den acht Armen, der Tinte und den Täuschungsmanövern auf sich hat. Wir lernen, was Bionik ist (Seite 69), welcher Sehtest unser dominantes Auge bestimmen lässt (Seite 102), was die besonders schönen Fremdwörter Cephalopode (Seite 33), Kryptozoologe (Seite 17), Oktopode (Seite 37) bedeuten – danke, Michael Stavarič, dass Sie es wagen, Latein und Griechisch zu verwenden! Diese faszinierenden Sprachen sind ja inzwischen (leider) auch zu Wesen einer unbekannten Welt geworden …
Bei aller Faszination muss auch ein wenig Anthropozentrismuskritik angebracht werden: „wie bei uns Menschen eben“ (Seite 107) bestimmt ein wenig den Grundton dieses Krakenbuches. Die Plastikflasche auf dem Meeresboden (Seite 76/77) wird ebenso wenig thematisiert wie die massiv gefährdete Biodiversität auf dem Planeten Erde im Anthropozän. Stattdessen lesen wir (auf Seite 117), dass „wir uns da auf Mutter Natur verlassen (können). Es wird immer genügend Kraken geben, sodass die Art fortbesteht.“ Lieber, krakenfaszinierter Autor, woher nehmen Sie, entgegen der empirischen Fakten des IPCC Report, diese Zuversicht, dass Kraken vom Artensterben verschont bleiben werden? (Vice versa: dass Sterne auf dem Land seltener geworden sind, ist vielleicht eine etwas gewagte Aussage … auf Seite 7?)
„Ich weiß, das sagt sich leicht, aber ich gehe mal mit gutem Beispiel voran – aber danach seid ihr an der Reihe, versprochen?“
Was als munterer Dialog mit Kindern angelegt ist, klingt stilistisch, in der Satzstellung mündlicher Rede, manchmal ein wenig wie ein etwas onkelhafter Lehrervortrag für (hoffentlich) wissbegierige Schüler*innen (deren Physiklehrer, siehe Seite 11, offenbar noch alle männlich sind). Wem das viele Wissen, das hier transportiert wird, irgendwann zu viel ist, der*dem sei empfohlen, flugs auf Seite 123 zu blättern – dem absoluten Highlight dieses Krakenfaszinosums. Hier erleben wir den unnachahmlichen Erzähler Michael Stavarič, der zum Perspektivenwechsel einlädt: „Die etwas andere Verwandlung“ ist der Titel der abschließenden Erzählung. Warum der Titelheld wohl ausgerechnet Wladislaw Wostok heißt? „Riff bleibt Riff“, mag sein. Auf jeden Fall purer sinnlicher Sprachgenuss.
Michèle Ganser, Michael Stavarič
Faszination Krake
Wesen einer unbekannten Welt
Leykam: Kinderbuch, 2021
ISBN 978-3-7011-8202-2
Alle Abbildungen: © Michèle Ganser