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Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau

Der Sommer 1994. Monate im ostdeutschen Plattenbau, in denen alles möglich scheint.

Shinrin yoku, das ist ein Wort, das Sascha gefallen würde. Ein Wort, das hervorragend in die Sammlung seltsamer und eigentümlicher Wörter passen würde, die der 13jährige Junge seit Jahren angelegt hat. Darin finden sich schöne Wörter aus China und anderen Gegenden, die weit, so weit entfernt sind.
Sascha Labude lebt in Klein-Krebslow einer heruntergekommenen Plattenbausiedlung am Stadtrand. Eine Vier-Raum-Wohnung wie alle in Klein-Krebslow. Das bringt auch Vorteile mit sich, denn wenn Sascha Freunde besucht, weiß er immer sofort, wo die Toilette zu finden ist.
Wir befinden uns im Jahr 1994 und der Osten des Landes ist vielfach noch im Aufbau begriffen, in der Nachwendezeit der beginnenden 90er-Jahre gibt es für Jugendliche nicht viel zu tun. Der Plattenbau samt der darin lebenden Menschen wurde nach der Wende einfach vergessen, von den Errungenschaften des Westens ist nichts in Klein-Krebslow angekommen, es ist ein Stadtteil der verlorenen Seelen.

Der Westen kam mir viel kleiner und weniger prachtvoll vor, als ich ihn mir in meiner Fantasie ausgemalt hatte.


Sascha verbringt die Nachmittage mit seinem Kumpel Sonny, mit Computerspielen und dem Bau eines Baumhauses.
Und dann taucht plötzlich Juri auf, die neue Mitschülerin, ein merkwürdig-geheimnisvolles Mädchen, das Sascha sofort fasziniert. Die kluge Juri, die ein Faible für Astronomie entwickelt hat und alles über den Weltraum zu wissen scheint, die ihm erklärt, dass wir, wenn wir in die Sterne schauen, immer in die Vergangenheit blicken.
Es ist ein Sommer, nach dem nichts mehr sein wird, wie es einmal war, der Sommer, in dem Sascha die Kindheit endgültig abhanden kommt.
In diesen Sommertagen weitet Juri Saschas Blick auf die Welt, führt ihn hinaus aus dem Plattenbau und ermuntert ihn, die Wände in seinem Kopf zu überspringen.
Kann sich in diesem Sommer des Übergangs gar eine Liebesgeschichte entwickeln?

Björn Stephan fängt in seinem Debütroman, der mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis 2021 ausgezeichnet wurde, eine Zeit des Aufbruchs recht stimmig ein. Es sind weitreichende gesellschaftliche Umwälzungen im Gange, die sich auch im turbulenten Innenleben seiner Hauptpersonen widerspiegeln. Stephan versteht es auch, sich in die Lebenswelt der Heranwachsenden hineinzuversetzen und seinen Protagonisten eigene Stimmen zu verleihen. Diese Aspekte des Romans vermögen zu überzeugen.
Manche Passagen wiederum schrammen mitunter knapp am Kitsch entlang und greifen tief in den Nostalgie-Topf, kratzen dann aber gerade noch die Kurve. Ein wenig aufgesetzt wirken auch die Signalwörter von Konsumgütern aus Ost und West, die den Kitt darstellen, der die unterschiedlichen Hemisphären verschmelzen soll: Neben Wartburg und Nimm 2 ziehen sich mehrfach viele derartige Hinweise durch die 343 Seiten.

Was Elton John und der Kosmonaut Juri Gagarin im Buch verloren haben, sei an dieser Stelle allerdings nicht verraten.
Übrigens: Shinrin yoku bedeutet soviel wie ‚Waldbaden‘. Eine Naturheilmethode aus Japan, die meditatives Wandern durch den Wald meint.
Ja, Shinrin yoku würde Sascha bestimmt gefallen.

Nur vom Weltraum aus ist die Erde blau

Björn Stephan
Galiani Verlag
ISBN: 978-3-86971-229-1