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Von Monstern und Mythen

Während der Raunächte, wenn draußen die Winterstürme heulen und die Wilde Jagd umherzieht, ist die …

Während der zwölf Raunächte, wenn draußen die Winterstürme heulen und die Wilde Jagd umherzieht, ist genau die richtige Zeit für eine Reise zu Europas wilden Geschichten. Großes Lesevergnügen bereitet das mit dem englischen Reiseschriftsteller Nicholas Jubber als Reisebegleiter. Obwohl es düstere, blutrünstige Geschichten sind, die Europas Identität geprägt haben: die Odyssee, der Kosovo-Mythos, das Rolands- und das Nibelungenlied, der Beowulf und die Njáls-Saga. Das klingt nach Gelehrtenliteratur? Dieser Eindruck täuscht. Es ist eine Welt von Göttern und Drachen, Rittern und Prinzessinnen, welche die Menschen über Jahrhunderte hinweg faszinierte. Das klingt nach ferner Vergangenheit? Immer wieder neue Bearbeitungen dieser Stoffe in Literatur, Film, Theater zeugen von der anhaltenden Faszination bis in unsere Zeit.

Eine Odyssee, nach Homer, neu erzählt von Thorleifur Örn Arnarsson und Mikael Torfason. Berlin, Volksbühne.
Regie: Thorleifur Örn Arnarsson. Odysseus: Daniel Nerlich. Foto: Vincenzo Laera

Nicholas Jubber machte sich auf den Weg und folgte den Spuren der großen Epen quer über den Kontinent: Er wollte wissen, „was es heißt, Europäer zu sein“. Die Epen „entstanden sämtlich in Zeiten gewaltiger Erschütterungen oder beschreiben solche“ – sind also Geschichten des Untergangs, des Übergangs, von Neid und Rache, Flucht und Vertreibung, Liebe und Hass. Durchaus aktuell also.

Das Trojanische Pferd ist als Graffito in Athen allgegenwärtig – verbunden mit einer politischen Botschaft. © Nicholas Jubber

Konsequenterweise beginnt Jubbers seine Reise daher auf einer kleinen griechischen Insel: Auf Chios soll Homer der Überlieferung nach die Odyssee verfasst haben. Heute sitzen hier gestrandete Asylwerber fest und warten auf die Bearbeitung ihrer Anträge. Jubbers kommt nicht als Tourist, sondern arbeitet einen Monat lang als Lehrer in der Schule des Flüchtlingscamps. „Die Odyssee ist voller Flüchtlinge und Außenseiter, die von irgendwo herkommen.“ Sein Buch, so beginnt man zu ahnen, ist keine triviale Reiseerzählung. Es ist eine Spurensuche voller leiblicher Erfahrungen, eindrücklicher Begegnungen, sinnlicher Wahrnehmungen.

Welchen Beitrag haben diese Epen zur Schaffung Europas geleistet? Lohnt es sich nach wie vor, sie zu lesen? Können sie uns heute helfen, Europa besser zu verstehen?

Die Fragen, die sich der Autor vor Beginn seiner Reise stellte, lassen sich so beantworten: Ja – mit diesem Buch in der Hand, das literarischen, historischen, politischen, phantastischen Querverbindungen kreuz und quer über Festland, Meere, Inseln, Gebirgspässe, Gletscherspalten folgt. Eine Entdeckungsreise tief in das kulturelle Fundament Europas.

Nicholas Jubber:
Von Monstern und Mythen
Eine Reise zu Europas wilden Geschichten
DuMont Reiseverlag
ISBN 978-3-7701-6694-7

Noch ein Tipp: Die Odyssee als Ö1-Hörspiel, von und mit Wolfram Berger, Musik von Peter Rosmanith – ein Klangerlebnis, hier eine Hörprobe der Klangbuch-Edition im Mandelbaum Verlag.